17.10.2022

Sicherheit in einer unsicheren Welt


Wie kann ich mich in krisenhaften Zeiten regulieren, um selbstwirksam und handlungsfähig zu bleiben?

Seit dem Beginn des Ausbruchs der Pandemie erleben wir sehr unruhige und unsichere Zeiten, Corona, Klimakrise, ein Krieg, der die Welt in Unruhe versetzt mit allen schrecklichen Folgen, die das Wesen eines Krieges ausmachen.
Als ich begann diesen Artikel zu schreiben, hatte der Krieg gegen die Ukraine noch nicht begonnen. Wenn ich den Artikel nun fertigstelle, fällt mir auf, wie schnell sich die Welt in den letzten zweieinhalb Jahren verändert hat.
Diese Tatsache, dass es einen Krieg so nah bei uns gibt, hat unser Gefühl von Sicherheit zusätzlich erschüttert. Die Welt als unsicherer Ort, wie gehen wir damit um?

Je nach unserer individuellen Geschichte und der Fähigkeit uns zu regulieren, reagieren wir sehr unterschiedlich auf diese bewegten und unruhigen Zeiten.

Die Welt war nie ganz sicher und es gab immer Kriege. Für uns in Europa (abgesehen von den Menschen, die den Krieg im ehemaligen Jugoslawien erleben mussten) hat sich die Welt in den letzten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg als ein Ort angefühlt, der immer sicherer wurde. Gleichzeitig lebten und leben auch in dieser Zeit viele Menschen in familiären oder auch beruflichen Kontexten, die nicht sicher waren und sind.
Das kollektive Gefühl von Sicherheit ist wackliger geworden. Wie gehen wir damit um?
Was macht das mit Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben oder in unsicheren Kontexten leben?
Was macht dieser Umstand mit Menschen, die aufgrund von Traumaerfahrungen die Welt bereits vorher als unsicheren Ort empfunden haben und sich auf einem teilweise mühsamen Weg ein Stück Sicherheit erarbeitet haben?
Erarbeitete Ressourcen können in unserem Erleben in Gefahr geraten.
Luise Reddemann schreibt in ihrem zu Beginn der Pandemie (als es noch keinen Impfstoff gab) geschriebenen Buch, mit dem Titel „Die Welt als unsicherer Ort“: „Die fortbestehende Covid-19-Pandemie löst bei vielen gravierende Reaktionen aus, wie z.B. Ängste und Depressionen. Besonders betroffen sind Menschen mit Traumafolgeerkrankungen, die sich in ihrem Leben ohnehin nie ganz sicher fühlen können und in Ausnahmesituationen vom Verlust ihrer oft mühsam erarbeiteten Ressourcen bedroht sind“.

Wie können wir uns beruhigen in unruhigen Zeiten?

Wie finden wir ein Gleichgewicht zwischen mitfühlender Anteilnahme und einer ausreichenden Distanz, um unseren Alltag als handlungsfähige und lebensbejahende Menschen zu führen?

Persönlich hat mich die Tatsache, dass Russland einen Krieg gegen die Ukraine führt, zu Beginn für zwei, drei Tage in einen Zustand innerer Lähmung versetzt.
Ich bemerkte wie ein transgenerationales Trauma getriggert wurde. Meine Mutter musste mit ihrer Familie im Alter von 15 Jahren aus Schlesien flüchten. Die Erfahrungen auf der Flucht und der Verlust der Heimat waren sehr traumatisch.
Meine Tante, die Halbschwester meiner Mutter erzählte, „es kommt alles hoch“ „obwohl ich doch gar nicht dabei war“. Meine „Stiefoma“ war auf der Flucht mit meiner Tante schwanger.
Transgenerationale Traumen können ihre Wirkung über Generationen haben.

Um aus meiner inneren Erstarrung zu kommen, begann ich anzuwenden, was ich gelernt habe von Peter Levine (Somatic Experiencing) und von Luise Reddemann (PIIT)
Aufgrund meines Wissens über Trauma, konnte ich aus dem Gefühl von innerer Lähmung wieder in einen Zustand von Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit kommen.
In krisenhaften Zeiten kommen transgenerationale Traumen in Resonanz und es entsteht ein kollektives Feld von größerer Unsicherheit. Die höhere Aktivierung im „Feld“ kann dazu führen, dass wir selbst in eine hohe Aktivierung kommen.
Für Menschen mit frühen traumatischen Erfahrungen bedeutet dies eine zusätzliche Hürde, sich gut regulieren zu können.

Peter Levine hat ein Modell entwickelt, welches er Lebensflussmodell nennt. Ich möchte dieses Modell beschreiben und einen Bogen schlagen, zu dem was in der Welt kollektiv geschieht.

Das Lebensflussmodell ist eine Metapher für unser Leben, das wie eine Fluss innerhalb seiner Ufer fließt. Gedanken, Gefühle, innere Bilder und Verhaltensweisen sind im Fluss. Das Ufer stellt die Grenzen dar, übermäßige Reize werden abgehalten. Steine und Felsen repräsentieren die Herausforderungen, die uns das Leben stellt, die wir bewältigen können. Im Lebensfluss erleben wir uns handlungsfähig, selbstwirksam und mit unserer persönlichen Macht verbunden, das eigene Leben zu gestalten. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden im Zusammenhang wahrgenommen, es besteht Kontinuität und Kohärenz.
Trauma durchbricht die Barriere gegen übermäßige Reize und überwältigt unsere Reaktionsfähigkeit, die Ereignisse sind zu schnell und zu viel. Unser schützendes Flussufer wird durchbrochen, eine Flut von Erregungsenergie, die wir nicht kontrollieren können und ein Traumawirbel wird erzeugt. Dieser ist außerhalb unser eingegrenzten Lebenserfahrung.
Gleichzeitig entsteht ein Gegenwirbel innerhalb des Lebensflusses, also innerhalb unsrer Lebenserfahrung - unsere Überlebens und Ressourcenkräfte.
Dieser ist zunächst klein und kann durch Zugriff auf Ressourcen aufgebaut werden. In jeder Lebensgeschichte gibt es Ressourcen auf die wir zurückgreifen können wie das Erleben von Halt, gehalten werden, Schutz usw. Die Stärkung dieser Ressourcen ermöglichen die Integration und Heilung von Trauma. Sie stabilisiert uns im Hier und Jetzt.

Im krisenhaften Zeiten entsteht ein ein kollektiver Traumawirbel (äußerer Vortex). Gleichzeitig entwickelt sich ein Ressourcenwirbel (innerer Vortex).

Ängste und Sorgen werden aktiviert und es entwickeln sich Ressourcen, wie Hilfsbereitschaft, Solidarität und die Erfahrung, Krisen bewältigen zu können. Es ist wichtig, dass wir die Ressourcen gerade in diesen Zeiten stärken. Trauma hat eine starke Sogkraft. Wenn wir ständig Nachrichten schauen und lesen, besteht die Gefahr, dass es uns in den Sog des Traumas hineinzieht.
Wenn Dinge geschehen, die alte traumatische Erfahrungen oder auch transgenerationale Traumen zum Klingen bringen, entstehen Gefühle und Empfindungen wie im Trauma selbst und unsere vegetatives Nervensystem schaltet in den Notmodus.
Der Notmodus ist sehr hilfreich, wenn wir wirklich im Hier und Jetzt in Not sind. Unser Nervensystem stellt uns dann die notwendige Energie zum Kämpfen, Flüchten und zum Erstarren (Immobilität) bereit.
Geraten wir in den Sog vergangener Traumaerfahrungen, kann es zu Gefühlen innerer Lähmung, Hilflosigkeit, sich ausgeliefert fühlen mit den entsprechenden somatischen Reaktionen kommen. Der Traumasog wird durch sogenannte Trigger ausgelöst. Menschen mit nicht integrierten Traumaerfahrungen haben oft eine eine erhöhte Grundaktivierung. Eine höhere Grundaktivierung im Feld kann bei traumatisierten Menschen ein Auslöser sein, schneller in den Traumasog zu geraten.

Sind wir im Sog des Traumas, gibt es nur Lösungen im Überlebensbereich.

Anhand eines Beispiels möchte ich dies verdeutlichen. Über die Jugendhilfe unterstütze ich vor einigen Jahren eine schwer traumatisierte Familie. Es war eine Roma-Familie, welche im Kosovo lebte. Während des Krieges flüchtete die Familie nach Deutschland. Die Familie hatte starke Traumfolgeerscheinungen. Wenn der Vater beispielsweise ein Geschäft betrat und es war zufällig ein albanisch aussehender Kunde im Raum, kam er in starke Aktivierung. Sein Herzschlag und sein Puls beschleunigte sich. Er bekam Schweißausbrüche und verließ fluchtartig das Geschäft.
Er konnte nicht mehr realisieren, dass da ein neutraler oder freundlicher albanischer Mensch war, der ihm keinen Schaden zufügen wollte. Sein vegetatives Nervensystem schaltete in den Notmodus, obwohl keine reale Gefahr vorhanden war.
Im Überlebensmodus gibt es nur schwarz und weiß. Aus dem Erleben von großer Unsicherheit kann auch der Ruf nach vermeintlich „starken Persönlichkeiten“ entstehen, die „alles regeln, damit es wieder gut wird“ Ein verständlicher, aber kindlicher Wunsch, der die Gefahr und den Ruf nach totalitären Systemen erzeugen kann.
Der Lebensmodus zeichnet sich durch Schwingungsfähigkeit aus. Das bedeutet, wir sind in der Lage mit veränderten, auch schwierigen Situationen umzugehen und flexible Lösungen zu finden.

In unruhigen und krisenhaften Zeiten können wir nicht so tun, als wäre nichts. Was sich im Außen bewegt, bewegt auch uns. Gleichzeitig befinden wir uns nicht in akuter Gefahr.
In einem Interview, welches ich ein, zwei Wochen nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine in der Tagesschau sah, sagte eine Frau: „Ich versuche mich jeden Tag zu beruhigen“
Mit großer Ehrfurcht hörte ich dieser Frau zu und dachte. Wenn diese Frau in der Ukraine sich beruhigen kann, dann kann ich das auch.

Der wichtigste Faktor bei der Selbstregulation ist im Hier und Jetzt anzukommen.

Dabei hilft uns unser Körper, beispielsweise indem wir den eigenen Atem wahrnehmen oder spüren, dass wir auf den eigenen Beinen und Füßen stehen. Es sind oft kleine Übungen der Achtsamkeit, die dabei hilfreich sind. Sie sind einfach und wirken fast trivial angesichts der Dinge die im Außen geschehen. Regelmäßig angewandt, haben sie jedoch eine große Wirkung.
Im Hier und Jetzt angekommen, sind wir im Modus von Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit und in Kontakt mit uns und anderen. In Kontakt mit uns selbst sein bedeutet unseren Körper, die eigenen Gefühle und Gedanken wahrzunehmen, ohne davon überwältigt zu werden.
In diesem Modus können wir entscheiden, was hilfreich für uns ist und in welcher Art wir anderen helfen bzw. in welcher Weise wir uns engagieren wollen und können.
Wir können stärkende Ressourcen nutzen, wie die Natur, Tiere, Bewegung, Meditation und die Gemeinschaft mit Menschen. In unsicheren Zeiten ist menschlicher Kontakt und Gemeinschaft besonders wichtig. Eine Familie und/ oder eine Gemeinschaft, die uns trägt.
Menschen, die sich miteinander verbinden mit dem Ziel friedlich und achtsam miteinander zu leben.
Manchmal braucht es eine Zeit lang eine Unterstützung von außen, in Form einer therapeutischen Unterstützung, um sich wieder stabil und handlungsfähig zu erleben.
Im Bereich von Handlungsfähigkeit sind wir schwingungsfähig und damit in der Lage uns immer wieder zu orientieren und zu stabilisieren. Damit können wir die Sicherheit in uns schaffen auch in unsicheren Zeiten wirksam zu handeln.

Vortex ist das englische Wort für Wirbel
Bild: Marc Chagall Bühnenbild für die Zauberflöte von Mozart

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