22.10.2020

Alles im Fluß


"Das Gute geht vorbei und das Schlechte geht vorbei"

Peter Levine verwendete diesen Satz einmal in einer Demo – Sitzung mit einer Klientin während eines Weiterbildungsseminars in Bad Boll für SE TherapeutInnen.
Er prägte sich mir eindrücklich ein und kommt mir immer wieder ins Bewusstsein. Wenn er passt, nutze ich ihn in der Therapie mit KlientInnen.
Es ist ein so einfacher Satz und er drückt eine essentielle Wahrheit aus. Unser Verstand weiß, dass Dinge vorbei gehen. Sind wir jedoch in einer Krise, verändert sich unser Zeitgefühl und wir haben oftmals das Gefühl „das Schreckliche“ gehe nie vorbei, die Schmerzen hören nie auf, egal ob sie seelisch oder körperlich sind.
Besonders Menschen mit traumatischen Erfahrungen sind oft „wie in einem Zustand gefangen“.
Das autonome Nervensystem bleibt in diesem Fall im Flucht- oder Kampfmodus stecken. Es kann auch im Zustand von Erstarrung verharren. Die von Peter Levine entwickelte Traumatherapie SE gibt einen besonderes Augenmerk darauf, Menschen zu unterstützen sich aus diesen Mustern zu lösen.
Die Wahrnehmung von Körperempfindungen, Gefühlen, inneren Bildern im geschützten Rahmen eines therapeutischen Kontextes, kann dem Nervensystem helfen sich zu regulieren. So können wir das Gefühl von Sicherheit und Stabilität im Hier und Jetzt herstellen.
Bei traumatischen Erfahrungen kann es zu einer Fragmentierung von Wahrnehmungen kommen.
Sind die drei Anteile des Gehirns, der präfrontale Kortex, das limbische Gehirn und das Stammhirn wieder verbunden, verstehen wir, dass die traumatische Erfahrung vorbei ist und wir in Sicherheit sind. Dazu reicht nicht allein der präfrontale Kortex, unsere Gedanken aus, wenn sie nicht verbunden sind mit Gefühlen und Körperempfindungen.
Hat unser Nervensystem Erfahrungen mit frühem traumatischem Stress, wird es weniger schwingungsfähig. Früher traumatischer Stress kann beispielsweise ausgelöst werden durch ein Geburtstrauma, frühe Trennungen, frühe Operationen oder wenn ein Kind traumatisierte Eltern hat, die mit einer hohen Aktivierung umgehen und sich selbst schwer regulieren können.

Schwingungsfähigkeit bedeutet, dass ich zwischen Aktivierung und Deaktivierung, zwischen Spannung und Entspannung pendeln kann und dass Gefühle kommen und gehen.
Überlebensstrategien in belasteten Situationen sind gut und wichtig. Sie sind aber eben nur zum Überleben geeignet. Sie sind schnell, einfach und effektiv. Da gibt es wenig Spielraum. Die Fähigkeit bei Gefahr schnell zu reagieren ist existentiell.
Wenn die Überlebensstrategien zur Normalität werden, wird es zum Problem. Die Schwingungsfähigkeit ist eingeschränkt. Eine dauerhafte „Hab acht“ Stellung mit hoher Erregung, oder eine inneren Erstarrung lässt uns nicht mehr flexibel mit Situationen umgehen.

Zurück zum Zitat von Peter Levine. Sind wir im Überlebensmodus, haben wir nicht das Gefühl, das Schlechte gehe vorbei. Geht es uns gut, neigen wir dazu diesen Zustand konservieren zu wollen, was natürlich nicht möglich ist.
Wenn uns eine innere Instanz, ein innerer Beobachter zur Verfügung steht, der auch in Krisenzeiten weiß, dass Zustände sich ändern und vorbei gehen, können wir Hoffnung entwickeln. Wir sind in der Lage Hilfe zu holen und zuzulassen.

Wofür soll es jedoch gut sein, dass das Gute vorbeigeht?
Anhand eines kurzen Fallbeispiels möchte ich deutlich machen, warum es hilfreich sein kann, dass auch das Gute vorbeigeht.
Ein junger Mann erkrankt schwer, was eine große Lebenskrise auslöst. Als es ihm körperlich und seelisch besser geht, kommt sofort der Gedanke: „Jetzt ist alles gut – ich habe es geschafft“.
Er will diesen Zustand verständlicherweise festhalten. Natürlich funktionierte es nicht und das Festhalten wollen, erzeugte eine große Anstrengung und erneutes Leiden.
Er braucht lange, um diese Dynamik zu verstehen und dass es Rhythmen von Erholung und Wachstum gibt. Eine ganze Weile tappte er wiederholt in die Falle von, „das Schreckliche hört nie auf“ oder „Ich habe es geschafft, alles ist gut“
Inzwischen kann er immer mehr die sogenannten guten Phasen seines Lebens genießen und würdigen im Hier und Jetzt. Wenn das Leben Herausforderungen an ihn heran bringt, kann er andocken an gemachte Erfahrungen. Er weiß, dass er Herausforderungen bewältigen kann und dass schwere Zeiten vorbei gehen.
Im Nachhinein kann er manches Schwere auch als Lernerfahrung sehen, die wieder Gutes hervorgebracht hat.

In der Natur können wir dieses Phänomen, dass Dinge kommen und gehen täglich beobachten. Wir sehen wie die Sonne morgens aufgeht und abends untergeht. Wir sehen die Jahreszeiten kommen und gehen. Wir wissen, dass ein Gewitter oder ein Sturm wieder aufhört. Wir wissen, dass jedem Ausatmen ein Einatmen folgt.
Im Modus von Trauma und Angst braucht es wieder einen Zugang und ein sich Einverleiben dieses Wissens; das Vertrauen, dass Dinge kommen und gehen.

Das Leben ist unser größter Lehrmeister und es ist leichter mit den Wellen zu gehen, umzugehen mit den Bewegungen des Lebens. Das bedeutet nicht, dass ich nicht die Richtung bestimme, aber dass ich die Herausforderungen des Lebens mehr als Lerngeschenke sehen kann. Manchmal ist das erst im Nachhinein möglich.
Mir kommt das Bild einer Wanderung. Ich gehe den Berg hoch, komme auf ein Hochplateau, auf dem ich mich erholen und regenerieren kann und dann geht es weiter zu neuen Gipfeln.
Für Menschen mit traumatischen Erfahrungen ist es oftmals ein langer Weg, sich stabil und sicher zu fühlen und dem Leben zu vertrauen. Es braucht Räume, wo diese Erfahrung im Hier und Jetzt gemacht werden kann.
Sind wir dort angelangt, wird es lebendig und spannend.

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