22.02.2022

Gedanken über das älter werden


Wozu ist es eigentlich gut jünger auszusehen als man ist ? oder.....„auf das was da noch kommt“

Kürzlich erzählte mir eine Kollegin strahlend, sie habe sich bei einem Kurztrip in einem Hotel mit einer jüngeren Frau angefreundet und diese habe sie 10 Jahre jünger geschätzt, als sie sei.
Ich konnte ihre Freude gut verstehen und fragte mich im Nachhinein „Wozu ist es eigentlich gut jünger auszusehen als man ist ? Was ist so erstrebenswert daran, nicht so alt aussehen zu wollen, wie man ist?
Wir leben in einer Gesellschaft, in der jung sein und jung aussehen ein erstrebenswerter Zustand ist. Älter werden und alt sein ist am besten zu vermeiden. In einem Artikel las ich vor einiger Zeit folgenden Satz: „Alle wollen alt werden, aber keiner will alt sein.“ Dieser Satz drückt das gesellschaftliche Dilemma gut aus. Er stammt aus einem Artikel in einer fortschrittlichen anthroposophischen Zeitschrift, was kein Zufall ist. In der Philosophie der Anthroposophie gibt es einen, wie ich finde sehr konstruktiven Umgang mit dem älter und alt werden. Ich bin keine Fachfrau in diesem Bereich, weiß jedoch, dass „von lebenslangem Lernen“ gesprochen wird, die Weisheit des Alters gewürdigt wird und die Vergänglichkeit nicht negiert wird.

Persönlich beschäftige ich mich zu diesem Zeitpunkt mit diesem Thema, da im Jahr 2022 mein 60. Geburtstag ansteht. Diese Tatsache setzte im gerade vergangenen Jahr einen inneren Prozess in Gang. Zuerst spürte ich einen Widerstand nun bald zu den 60jährigen zu gehören. Meinen inneren Widerstand schaute ich an, um zu verstehen, um was es da eigentlich geht.
Die Zahl 60 hat eine Bedeutung. Die Vergänglichkeit wird bewusster. Die Jugendzeit ist lange vorbei. Manches ist nicht mehr möglich, vieles ist noch möglich.
Ich werde übrigens meistens so alt geschätzt, wie ich bin und ich merke, dass das genau richtig ist, denn so alt bin ich ja. Und es streichelt natürlich mein Ego, wenn ich jünger geschätzt werde.

Anti- Aging, was für ein Begriff. Gegen das Alter. Sich gegen das älter werden zu wehren, ist wie sich gegen das Leben zu stellen. Leben ist Veränderung und ständiger Wandel.

Wenn wir es bremsen wollen, entsteht Stagnation und damit verbunden Leiden. Man könnte es auch als einen Akt gegen sich selbst deuten, da wir unabänderlich älter werden und in einer extremen Form als einen Ausdruck von Selbsthass.
Wir werden (fast) alle älter und wir werden alle sterben. Das Leben führt unabänderlich zum Tod. In meiner Auseinandersetzung mit diesem Aspekt des älter - werdens, stieß ich auf ein Buch von Irvin. D. Yalom, „In die Sonne schauen“ Wie man die Angst vor dem Tod überwindet.
Yalom wurde 1931 als Sohn russischer Einwanderer in Washington, D.C. geboren. Er gilt als einer der einflussreichsten Psychoanalytiker in den USA und ist vielfach ausgezeichnet. Er hat dieses Buch 2013 geschrieben, zu dieser Zeit war er 82 Jahre alt. Inzwischen ist er 90 Jahre alt. In diesem Buch geht es nicht explizit um das älter werden, sondern um die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit. Natürlich rückt dieses Thema im Alter näher, es sei denn, das Leben fordert uns sehr früh, uns damit auseinander zu setzen.
Yalom beschreibt sehr anschaulich, dass es im Prozess des älter - werdens darum geht, die Zeit die noch vor uns ist, bewusst und achtsam zu nutzen. In der Rückschau auf das gelebte Leben, gehe es nicht so sehr um großartige im Außen sichtbare Projekte, bestimmte Titel oder Auszeichnungen, die wir evtl. erhalten haben. Es geht darum, welche „Wellen“ wir in Bewegung gesetzt haben. Ich finde es ein sehr schönes Bild, dass jede Handlung wie ein Stein ist, den wir ins Wasser werfen und die Wellen die Wirkungen unserer Handlungen sind.

Die Auseinandersetzung mit dem älter werden und der damit verbundenen stärkeren Bewusstheit der eigenen Vergänglichkeit kann zur Chance werden.

In meinem eigen inneren Prozess, habe ich entschieden meine Haare nicht mehr zu färben. Graue Haare, ein Symbol des älter - werdens. Für mich, ein Symbol, zu mir zu stehen und in Würde zu altern. Es ist im Moment übrigens ein Trend, bereits auch jüngerer Frauen, die Haare nicht mehr zu färben.
Eine Gegenbewegung in einer Gesellschaft, die Antiaging praktiziert und gesunde Körper operativ und durch Botox künstlich verjüngt. Dies ufert teilweise in einer Weise aus, die menschliche Gesichter zu ausdruckslosen und entstellten Fratzen werden lässt. Ein aussichtsloser Kampf gegen das Altern und die damit verbundene Vergänglichkeit.
Eckart Tolle, spiritueller Lehrer beschreibt einige unserer Verhaltensweisen in der Gesellschaft, welche als Normalität gelten, als verrückt. Sich gegen einen natürlichen Prozess zu stellen, der zum Leben gehört, könnte man als verrückt bezeichnen. Er sagt, es sei nicht weniger verrückt, weil es viele oder fast alle machen würden.

Jedes Alter hat seine eigenen Herausforderungen, die Kindheit, die Jugendzeit, die Lebensmitte und das Alter. Jede Lebenszeit hat ihre eigene Schönheit.

Es gibt ein Buch mit dem Titel „ Die Schönheit des Alters“ Ich habe nur darin geblättert, aber alleine der Titel berührt mich. Im älter werden kann so viel Schönes liegen. Es ist sehr schade, dass die Weisheit der „Alten“ zwar gerne gehört wird, aber insgesamt zu wenig gewürdigt wird.
Wenn ein Mensch an Entwicklung interessiert ist, kann das älter werden ein reicher und fruchtbarer Prozess sein. Falten zeigen gelebtes Leben, Freude und Schmerz. (Natürlich gibt es auch Menschen, die im Alter hart und bitter werden.)
Wenn der Körper nicht mehr ganz fit ist, kann Demut den kleineren Bewegungen gegenüber entstehen. Vieles kann im älter werden und alt sein noch gelernt werden. Wir können uns lebenslang bilden in alle Richtungen.
Oftmals geht es aber auch um Lernprozesse wie Hilfe annehmen können, bedürftig sein dürfen, neben der Stärke auch Schwäche zeigen können. Wir können im älter werden aus einem reichen Erfahrungsschatz schöpfen, aus gelebtem Leben.

Ich habe das Glück einen Beruf zu haben, in dem das älter sein wertgeschätzt wird. Dafür bin ich sehr dankbar.

Als ich vor einigen Jahren, zweimal in der Woche in einer psychosomatischen Klinik arbeitete (ich war um die 50 Jahre alt), sagten die Klient:innen oft. „Zu ihnen habe ich Vertrauen, sie haben bereits Lebenserfahrung, was soll ich einem/r jungen Psychologen/in im Alter von 30 Jahren erzählen ?“ Viele jungen Kolleg:innen machen eine wunderbare Arbeit und bringen wieder ganz andere Qualitäten in ihrer Arbeit mit.
In meiner Praxis erzählen mir immer wieder, oftmals jüngere Klient:innen, wie wichtig die eigene Oma oder der eigene Opa war. Mich berührt das immer, bin ich doch selbst Großmutter von vier Enkelkindern. Viele Kinder lieben ihre Großeltern sehr und sie sind ein wichtiger Ort, gerade in familiär schwierigen Zeiten. Kürzlich erzählte eine junge Klientin, sie fahre mit ihrer Mutter nach Tschechien, um den Opa zu besuchen. Ich fragte, wie ihr Opa sei. Sie sagte: „Der Opa ist alles“, - was für eine schöne Beschreibung. Der Vater der Klientin hatte die Familie früh verlassen und wenig Kontakt gehalten. Der Opa war emotional immer für seine Enkelin da. Die Präsenz des Opas sei für sie sehr wichtig gewesen.

Wir müssen das älter werden und alt werden nicht glorifizieren, es hat viele Schattenseiten, wie alle Aspekte des Lebens. Die Frage ist, welchen Teil wir nähren wollen.

Schaue ich hauptsächlich, auf das, was nicht mehr möglich ist oder entscheide ich mich dafür darauf zu schauen, was noch und vielleicht erst jetzt möglich ist.
Nun könnte man ein ganzes Buch über dieses Thema schreiben und es sind sicher bereits viele gute Bücher darüber geschrieben worden. Dieser Artikel beleuchtet nur einige, wie ich finde, wichtige Aspekte.
Es ist gut Dinge zu betrauern, die wir nicht gemacht haben und Dinge, die wir aus heutiger Sicht anders machen würden. In jedem Leben gibt es Ungelebtes. Jede Richtung, für die wir uns entschieden haben und entscheiden werden, schließt eine andere Richtung zu diesem Zeitpunkt aus. Jeder vermeintliche „Fehler“ hat Entwicklungspotential.

Ich habe bei älteren Menschen, die ihre Herzensprojekte umgesetzt haben und viele Wellen in Bewegung gesetzt haben eine Beobachtung gemacht.

Vielleicht schildere ich diese an Hand eines Beispiels.
2003 besuchte eine kleine Gruppe von Psychotherapeut:innen die in London lebende norwegische Psychotherapeutin Gerda Boyesen zur Supervision. Sie war zu dem Zeitpunkt 81 Jahre alt und hatte einen schweren Krankheitsprozess hinter sich. Wir klingelten an ihrer Tür und eine etwas gebeugte Frau, gestützt auf ihren Stock öffnete die Tür. Es war Gerda Boyesen. Als wir später im Garten zur Supervision saßen war nichts mehr von ihrer Gebrechlichkeit zu sehen.
Wir stellten Fragen und sie schöpfte aus ihrem Wissensschatz und viel gelebtem Leben. Es war, als scheine ihre Seele durch, zeitlos. Verbunden mit ihrer Herzensangelegenheit schien sie sich zu verjüngen, zu strahlen, ihre Essenz wurde sichtbar.
Wenn wir verbunden sind mit unserer Essenz, mit dem was uns ausmacht, unabhängig von unserem Geschlecht, unserer kulturellen Identität und unseren vielen beruflichen und privaten Rollen, scheint etwas durch, was ich als Seelenqualität bezeichnen würde. Es ist etwas altersloses, ein Teil von uns, der sich ausdrücken will und sein will, ganz unabhängig von unserem Alter.
Im Prozess des älter und alt - werdens, haben wir die Chance uns mehr Zeit für diesen Teil zu nehmen. Vielleicht spielt dieser Anteil auch eine Rolle, wenn Eltern, denen die Elternrolle schwer fiel, als Großeltern gelassen und liebevoll sein können.
Ich habe mich entschieden, dem älter werden Raum zu geben, es auf mich zukommen zu lassen und ihm entgegenzugehen nach dem Motto „ Auf das was da noch kommt...“, wie das Lied einer deutschen Band so schön heißt.

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