12.06.2024

Selbstfürsorge - Luxus oder Notwendigkeit?


Ist eine gute Selbstfürsorge ein Luxusgut, das man sich ab und zu gönnt oder eine Notwendigkeit?

Eine gute Selbstfürsorge beinhaltet unter anderem eine Balance zwischen Aktivität und Erholung und ein gutes „für sich sorgen“. Sich ab und zu auf das Sofa mit einem Buch zu legen oder nach einem Arbeitstag ein heißes Bad zu nehmen ist ein Teil davon. Eine gute Selbstfürsorge geht jedoch darüber hinaus. Sie bedeutet eine neue Wertigkeit.

Wenn ich den ganzen Tag aktiv bin, mich gehetzt fühle und das Gefühl habe, nicht fertig zu werden, bin ich in der Regel abends sehr erschöpft. Ich schlafe auf dem Sofa ein oder versuche durch ein oder zwei Gläser Wein „runterzukommen“. Ist das nur ab und zu, kann unser Körper und unsere Psyche dies ausgleichen.

Wird dies zum Muster, kann es langfristig zum Problem werden.

Stresssymptome wie Schlafstörungen, Verdauungsbeschwerden, „nicht mehr runterkommen“ nehmen zu. Die Welt ist schneller und unüberschaubarer geworden. Der Zugriff auf die mediale Welt erlaubt eine demokratische Möglichkeit sich über vieles zu informieren und kann uns überfluten mit Informationen. Die Suchtgefahr ist hoch.
Interessanterweise würden die wenigsten Menschen auf die Idee kommen, ihre Zähne nur gelegentlich zu putzen oder ihre Kleidung nur selten zu wechseln. Die Körperpflege und die Pflege der eigenen Wohnung gehören zum ritualisierten Tagesablauf.
Anders sieht bei der sogenannten Psychohygiene aus, wie auch die Selbstfürsorge genannt wird. (Ich bevorzuge das Wort Selbstfürsorge, es hört sich für mich freundlicher als Psychohygiene an)
Viele Menschen sind der Meinung dafür nichts tun zu müssen, meistens so lange bis Symptome auftreten. Gleichzeitig merken immer mehr Menschen, dass sie ein gewisses Maß an Selbstfürsorge brauchen.

Leider haben wir eine Gesellschaft, in der oftmals das „über die Grenzen“ gehen, belohnt wird.

Möglichst viel zu leisten und möglichst lange zu arbeiten wird anerkannt. Die Digitalisierung lädt uns ein, uns ständig neuen Reizen auszusetzen.
Ein junger Mann, der vor vielen Jahren Klient bei mir war und einen kleinen Sohn hatte, schilderte, er würde abends um 19.30 Uhr seine Arbeit beenden. Er sei der erste der Feierabend mache. Seine Kolleg:innen würden ihn verständnislos anschauen.
Als ich vor mehreren Jahren in einer psychosomatischen Privatklinik arbeitete, erlebte ich einige Klient:innen, die meistens in sehr verantwortlichen und führenden Positionen arbeiteten mit folgender, oft ähnlicher Geschichte. Sie hatten über Jahre, bis Jahrzehnte, sehr leistungsfähig und erfolgreich gearbeitet, bis ihr Organismus nicht mehr mitmachte.
Diese Menschen erlebten Zusammenbrüche, in denen sie Wochen bis Monate brauchten, um sich zu regenerieren. Im Rausch von immer höher, schneller, weiter, mit einer ständigen Sympathikusaktivierung, spürten sie die Warnsignale ihre Körpers nicht mehr oder hörten sie und nahmen sie nicht ernst.

In der körperorientierten Arbeit mit diesen Klient:innen machte ich folgende Beobachtung. Unter dem, was offiziell als Burnout oder depressive Episode etikettiert wurde, kam oftmals ein frühes Entwicklungstrauma zum Vorschein.
Erst später in der traumatherapeutischen Weiterbildung in Somatic Experiencing erkannte ich den Zusammenhang in einer größeren Dimension.

Menschen, insbesondere mit frühen traumatischen Erfahrungen sind oft in einem, wie Peter Levine es nennt „Global High Muster“ gefangen. Das vegetative Nervensystem ist in einer dauerhaften Sympathikusaktivierung, in einem permanenten Alarmzustand.

Die frühe Erfahrung von „sich sicher fühlen“ war oftmals bei diesen Menschen aus unterschiedlichen Gründen zu wenig gegeben.
Personen mit einem Global High – Muster sind oft Menschen, die viel leisten und sehr erfolgreich sind. Der Teil der Regeneration und Erholung bleibt auf der Strecke.
Diese Menschen spüren sich oft nur bei hoher Aktivierung und erleben sich in diesem Zustand lebendig.
Wenn ich mit diesem Muster Anerkennung bekomme und auf der Karriereleiter aufsteige, ist das zwar einerseits erfreulich, andererseits aber, wie in den Fällen in der Klinik beschrieben, nicht ganz ungefährlich. Unser Organismus braucht einen Wechsel von Aktivität auf der einen Seite und Regeneration und Erholung auf der anderen Seite, ähnlich wie unser Atem einen natürlichen Rhythmus von Ein- und Ausatmen hat. Ich kann nur für einen begrenzten Zeitraum ausatmen. Der natürliche Impuls zum Einatmen folgt unwillkürlich.
Tatsächlich gibt es zwischen dem Atemrhythmus und dem Wechsel von Aktivität und Erholung eine Verbindung. Das Einatmen aktiviert den Sympathikus, der für Aktivität die nötige Energie zur Verfügung stellt und bei Gefahr die Energie zum Kämpfen oder Flüchten gibt.
Der Parasympathikus, der Gegenspieler des vegetativen Nervensystems wird beim Ausatmen aktiviert. Er hilft dabei, sich zu beruhigen und zu regenerieren. Bei Gefahr kann er uns in einen Zustand der Lähmung versetzen, was in der Tierwelt der sogenannte „Totstellreflex“ ist, der dem Überleben bei Lebensgefahr dient.

Eine Voraussetzung zur Integration einer guten Selbstfürsorge, ist die Fähigkeit sich zu spüren.

Die Fähigkeit den eigenen Körper wahrnehmen, ist die Voraussetzung, um beispielsweise zu merken, dass ich müde und erschöpft bin und eine Pause brauche oder dass mein Körper Bewegung und Aktivität braucht.
Einer meiner Klienten, der in einer Führungsposition ist, berichtet, er sei oft wie in einem Tunnel, wenn er arbeite. Er spüre sich dann nicht mehr und sei in einem fast rauschhaften Zustand.
Viele Menschen sind oft wie abgeschaltet, wenn sie arbeiten. Die Arbeit am PC lädt besonders dazu ein und es braucht Unterbrechungen, um wahrzunehmen, wie es mir gerade geht.

Wenn wir unseren Körper wahrnehmen, können wir lernen auf ihn zu hören und lernen, welche Rhythmen gut für uns sind. Nicht an jedem Arbeitsplatz ist es möglich dies frei zu gestalten. Oft ist jedoch mehr möglich, als wir umsetzen.
In meiner Arbeit in der Klinik nutzte ich oft auch kleine Pausen im Arbeitszimmer mit meiner Kollegin, um einmal innezuhalten, die Augen zu schließen, manchmal auch für ein kurzes Schläfchen. Während eines Meetings kann ich meine Füße auf dem Boden und den Kontakt zum Stuhl spüren. Ich kann meinen Atem wahrnehmen und meinen Herzschlag. Auch wenn ich eine Minute einmal nicht höre was gesprochen wird, ist das kein Drama. Meine Gedanken schweifen auch ohne diese kleinen Achtsamkeitsübungen ab.

Eine neue Wertigkeit der Selbstfürsorge bedeutet, dass Selbstfürsorge nicht nach Feierabend beginnt und auch nicht auf die Yoga-Stunde oder die Meditation beschränkt bleibt.

Dies sind hilfreiche Elemente, um Achtsamkeit und Selbstwahrnehmung zu üben. Darüber hinaus geht es jedoch, um die Integration der Selbstfürsorge in den Alltag.
Mir gefällt das Konzept von „Siesta machen“, wie es in manchen Mittelmeerländern praktiziert wird. Eine Auszeit, in der wir in Ruhe gemeinsam essen und uns mit den Kolleg:innen unterhalten können. Die Menschen im Süden nehmen sich oft mittags Zeit für ein gutes Essen, einen Café, ein Gespräch über „Gott und die Welt“
So hat unser vegetatives Nervensystem Zeit, sich zu erholen. Die Kontakte und das gemeinsame Essen stärken unser ventrovagales System, der Teil des vegetativen Nervensystems, der sich im sozialen Kontakt sicher fühlt.

In der Arbeit in einer Klinik, wollten manchmal Kolleg:innen mit mir während des Mittagsessens Fallbesprechnungen machen. Ich wollte das nicht und setzte mich dann manchmal zum Hausmeister und den Servicekräften um einen netten Small Talk zu halten.
Thich Nhat Hanh hat ein kleines Büchlein über Selbstfürsorge und Essen geschrieben. Darin sagt er, wenn wir während des Essens über Probleme sprechen, essen wir unsere Probleme.
In meinen Weiterbildungen über Traumatherapie rate ich den Teilnehmer:innen, in den Pausen nicht über traumatische Erfahrungen, sondern über leichte Dinge zu sprechen.

Für den eigenen Organismus ist es wichtig, die Fähigkeit zu entwickeln zwischen verschiedenen Zuständen hin und her zu pendeln, um sich zu regulieren, schwingungsfähig zu bleiben und sich zu regenerieren.

Bleiben wir in chronisch in einem Zustand, kann es der psychischen und physischen Gesundheit schaden.
Das kann sich darin zeigen, nicht mehr abschalten, „nicht mehr runterkommen“, zu können und in Daueraktivität zu sein. Wenn alles zu viel wird, zeigen sich Zustände von Erstarrung oder Erschlaffung. Es kann auch zu einem sogenannten Shut down kommen, in dem wir uns nicht mehr spüren, was in einen depressiven Zustand gehen kann.

Folgende Fragen können helfen, eine gute Selbstfürsorge in unser Leben zu installieren?

Wie viele Pausen brauche ich?
Bin ich jemand der längere oder kürzere Zyklen von Aktivität und Erholung braucht?
Wie viel Bewegung und wie viel Zeit zum Ausruhen brauche ich?
Welche Form der Bewegung tut mir gut? Gehe ich lieber joggen, radfahren, spazieren, schwimmen oder tanzen? Eher für mich alleine oder in einer Gruppe?
Wie viel Gemeinschaft brauche ich, Familie, Kolleg:innen, Freund:innen?
Habe ich nährende Beziehungen?
Wie viel Rückzug brauche ich?
Was macht mir Freude?
Was braucht mein Körper an Zuwendung?
Welche Ernährung tut mir gut?

Nehmen sie sich Zeit für diese Fragen und erforschen sie durch die Übung der Selbstwahrnehmung, was ihr Körper und ihre Psyche brauchen.
Wenn wir dem Teil der Regeneration und Erholung einen Wert geben, ist es die beste Gesundheitsprophylaxe und das Leben wird leichter und freudvoller.

Neben diesen beschriebenen Aspekten der Selbstfürsorge gibt es eine Erweiterung der Bedeutung von Selbstfürsorge, die mir sehr gut gefällt, aber den Rahmen dieses Artikels überschreiten würde.
Selbstfürsorge bedeutet auch, dass wir an dem für uns richtigen Platz leben, eine Tätigkeit haben, die stimmig ist und in der wir unser Potenzial ausdrücken können. Sie bedeutet, dass wir gesunde Beziehungen leben, die uns zufrieden machen und neben dem Beruf Hobbys haben, die uns erfüllen.
Natürlich erfordert dies alles die Möglichkeit einer Wahlfreiheit. Menschen, die in akuter Not und in Situationen des Überlebens sind, verfügen nicht über diese Wahlfreiheit.
Wenn wir eine Wahl haben, ist es jedoch eine Verantwortung, die sich wie jede noch so kleine konstruktive Handlung auf das Gemeinwohl auswirkt.

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