22.09.2023
"Das innere Kind" wer ist das eigentlich?
In psychotherapeutischen Kontexten wird oftmals vom „inneren Kind“ gesprochen.
Aber wer ist eigentlich damit gemeint?
Ist das innere Kind, ein verletzter Anteil in uns, welcher seelische und/oder körperliche Verletzungen, Entbehrungen, Abwertungen, Demütigungen erlebt hat?
Oder ist das innere Kind ein gesunder und lebendiger Anteil, welcher mit Ressourcen aus der Kindheit verbunden ist, der spielen möchte und neugierig und voller Lebensfreude die Welt mit allen Sinnen entdecken möchte?
Hat das innere Kind ein bestimmtes Alter und damit verbundene Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten?
Je mehr wir darüber nachdenken, desto unklarer wird es.
In meiner psychotherapeutischen Praxis wird der Begriff „inneres Kind“ immer wieder von Klient:innen benutzt. Die Bedeutung, die sie diesem Begriff geben, kann sehr unterschiedlich sein. Die Empfängerin, in diesem Fall die Therapeutin hat eventuell eine andere Bedeutungsgebung.
Oft wird das innere Kind mit verletzten inneren Anteilen oder Anteilen, assoziiert und weniger mit fröhlichen, zugewandten, neugierigen, frechen Anteilen in uns.
Um mit dem Begriff „inneres Kind“ arbeiten zu können, braucht es in der Kommunikation eine Verständigung, worüber gesprochen wird.
Das Konstrukt des inneren Kindes wurde zum ersten Mal durch die Transaktionsanalyse von Eric Berne populär«, sagt Wolfgang Lutz, Leiter der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Trier.
Eine einheitliche Definition gibt es nicht.
In meiner psychotherapeutischen Arbeit nutze ich den Begriff mit folgender Bedeutung: Die Bezeichnungen: „das innere Kind“, bzw. „innere Kind-Anteile“ sind hilfreiche Konstrukte, um mit inneren Anteilen zu arbeiten.
Diese Konstrukte haben viele Facetten und es gibt viele und sehr unterschiedliche Narrative zum Begriff des inneren Kindes. Sie sind mit unterschiedlichen Gefühlen, sowohl angenehmen, als auch unangenehmen Gefühlen verbunden. Die Arbeit mit dem inneren Kind, bzw. mit inneren Kind - Anteilen in der Psychotherapie kann sehr hilfreich sein. In der psychotherapeutischen Arbeit brauchen wir beide Seiten, sowohl die Ressourcenseite, als auch die belastete bis hin zur traumatisierten Seite.
Je größer die Belastung ist, desto mehr braucht es die Ressourcenseite. Ich nenne die inneren Anteile, welche Ressourcen enthalten, die „heilen inneren Kind - Anteile“.
Als Beispiel schilderte mir eine Klientin, die auf dem Land aufgewachsen ist, der Wald habe für sie als Kind immer eine schützende und beschützende Seite gehabt, in der sie sich sicher gefühlt habe.
In der Familie war dies anders. Der Vater trank und es gab sexuelle Übergriffe. In der Natur und besonders im Wald konnte die Klientin als Kind die heilenden Kräften der Natur erleben und konnte fantasievoll spielen, ohne in Gefahr zu sein. Ein heiler innerer Kind Anteil entstand. Diese Ressource steht ihr auch heute als Erwachsene zur Verfügung.
Die Arbeit mit inneren Anteilen erlaubt eine bewusste Teilung in uns.
Ein Schauen auf einen Anteil, insbesondere auf verletzte Anteile lässt uns Abstand nehmen zu belastenden Ereignissen in der Vergangenheit. Besonders bei traumatischen Erfahrungen kann die Arbeit mit inneren Anteilen uns helfen nicht in den Sog des Traumas zu gelangen und somit vor einer Retraumatisierung schützen.
Das Schauen auf innere Anteile hilft aus der Desidentifikation.
Desidentifikation bedeutet in eine Beobachterposition zu gehen und eigene Gedanken und Gefühle, eigenes Verhalten und eigene Konzepte, Werte, Fähigkeiten oder Persönlichkeitsmerkmale aktiv zu betrachten.
In der Psychologie und in der psychotherapeutischen Arbeit gibt es inzwischen oftmals eine Differenzierung des Begriffes „inneres Kind“ die ich für ausgesprochen wichtig halte.
Luise Reddemann, Fachärztin für Psychiatrie und Psychoanalytikerin, welche die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT), entwickelt hat, arbeitet beispielsweise mit dem Begriff der „jüngeren Ich-Anteile“, womit nicht nur Kind - Anteile, sondern auch jüngere erwachsene Anteile gemeint sein können.
Stefanie Stahl, Psychologin und Autorin spricht in ihren Büchern vom „Sonnenkind“ und dem „Schattenkind“.
In der Ego - State -Therapie, welche von John und Helen Watkins ab 1980 entwickelt wurde, wird von Ich-Anteilen gesprochen, wobei sowohl verletzte und traumatisierte Ich-Anteile, als auch verletzende Ich-Anteile gemeint sind.
Luise Reddemann lässt die Klient:innen den inneren Kind - Anteilen, die in der Therapie auftauchen ein ungefähres Alter zuordnen.
Ein innerer Kind-Anteil, der beispielsweise 12 Jahre ist, hat ganz andere Fähigkeiten der Verarbeitung und Überlebensstrategien als ein Säugling. Für eine 12jährige hat das allein gelassen werden eine andere Bedeutung als für einen vier Monate alten Säugling.
Mit dem von Klient:innen gefühlten und benannten Alter ergibt sich eine sehr unterschiedliche Herangehensweise. Jeder würde einen weinenden Säugling anders trösten als eine weinende Pubertierende.
In der Arbeit mit verletzten, inneren Anteilen geht es darum, dass die/der Erwachsene in uns die verletzten jüngeren Ich-Anteile oder inneren Kind-Anteile versorgt.
Der erste Schritt ist, das Leid und den Schmerz zu würdigen, den das Kind erfahren hat und wenn es möglich ist, das Kind, welches wir einmal waren, in der Vorstellung zu trösten.
Was hätte das Kind damals gebraucht?
Diese Frage an Klient:innen unterstützt den Prozess des Selbstmitgefühls. Ein zweiter Schritt ist, gemeinsam zu schauen, wie ich diese Anteile heute im erwachsenen Leben gut versorgen kann, wenn beispielsweise Gefühle von alleine gelassen werden, entstehen.
Die Versorgung von inneren verletzten Kind-Anteilen im erwachsenen Leben hilft Menschen aus dem Kreislauf der Wiederholung auszusteigen. Zu erkennen, dass ich mir heute beispielsweise Hilfe holen kann, dass ich eine Freundin anrufen kann, wenn ich mich alleine fühle, ermächtigt mich und stärkt das Erleben von Selbstwirksamkeit.
Ebenso wichtig ist die Zuwendung zu den heilen inneren Kind-Anteilen. Hier sind die Ressourcen und die Lebenskraft. Ein wichtiger Motor, das eigene Leben zu gestalten und die eigene Lebendigkeit zu spüren.
In manchem Therapien geht der Fokus meiner Ansicht nach zu sehr auf die Seite der verletzten Anteile. Dabei wird übersehen was die Klient:innen, die vor uns sitzen bereits gemeistert haben.
Die heilen inneren Kind-Anteile können sich in vielen Facetten und inneren Bildern ausdrücken.
Oft sind es Bilder von freier Bewegung, wie tanzen, hüpfen, springen. Ebenso kann Musik, die mit schönen Erinnerungen verbunden ist eine Ressource sein. Nährende und liebevolle Begegnungen mit Menschen, die für uns da waren, eine liebevolle Oma, ein Lehrer, eine Nachbarin, die uns gesehen und unterstützt haben. Erfahrungen mit Tieren und die Natur können eine Quelle sein.
Hilfreiche Helfer gibt es (fast) in jedem Leben. Wenn es diese sehr wenig oder gar nicht gibt, haben Kinder die Kraft der Fantasie. Eine unsichtbare Freundin oder eine spirituelle Kraft an die sie sich anbinden und in der Not Unterstützung erhalten.
All diese Ressourcen helfen bei der Stabilisierung und der Integration von schweren und traumatischen Erfahrungen.
Die bewusste Teilung im therapeutischen Prozess ermöglicht eine Beobachterposition, eine Metaebene, die uns erlaubt, verletzte Anteile zu versorgen und auf eine Art im inneren System „nachzube-eltern“. Die heilen inneren Kind- und jüngeren Ich- Anteile geben uns dafür die Kraft. Es folgt ein Prozess der Integration verschiedener Anteile, um wieder ganz und damit heil zu werden.
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